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AutorenbildKatja Reuther

implizites wissen



Inger Nilsson als Pipi Langstrumpf. Quelle: imago images / United Archives


Lesedauer 2 Minuten, 1 Zigilänge, 1x Kafitrinken, 1 Tramstationen fahren


Eine Kundin von mir war als Kind überzeugt, dass sie genau wie Pippi Langstrumpf ist. Sie war mutig, durch nichts zu bremsen und war sich sicher, dass auch sie über Superkräfte verfügt. Es gab wenig, was sie nicht einfach versuchte. Sie konnte deshalb viel mehr als die anderen Kinder, da sie, obwohl das ein Kind in ihrem Alter ja eigentlich noch gar nicht «konnte», es einfach trotzdem tat. Es war ihr nicht bewusst, dass sie offenbar noch nicht die Fähigkeiten dazu besass, und überraschte ihre Eltern immer wieder, in dem sie das Gegenteil bewies und es trotzdem konnte! Und wie Pippi, wollte sie reiten können und sass schon bald auf einem Pferd.


Unstoppable!


Sie war sich sogar sicher, dass sie mit den Superkräften ihren Vater von einer schweren Krankheit heilen konnte. Erst als er trotzdem starb und sie schon Teenager war, verlor sie den Glauben an ihre Superkräfte und galt in der Gesellschaft als «endlich wird das Kind normal».


Viele Jahre später zog sie mit ihrem Mann ins Ausland und ihr Glaube an die innere Pippi Langstrumpf erwachte wieder. Sie gab Reitunterricht für Kinder, bildete sich therapeutisch aus und bald war sie in der dortigen Region bekannt und Eltern vertrauten auf ihre Fähigkeiten mit Kindern und Tieren zu arbeiten. Das Ehepaar leitete über ein Jahrzehnt einen eigenen Hof.


Zurück in der Schweiz gründete sie noch einmal erfolgreich eine therapeutische Einrichtung für Kinder und war wiederum sehr gefragt.


Einige Zeit später gab sie die Selbständigkeit auf und liess sich in einer Betreuungseinrichtung anstellen. Mit ihr wurde die diese erfolgreich, denn sie folgte einfach weiterhin ihrem Instinkt, so wie sie das immer gemacht hat. Bis zu einem Schlüsselmoment:


Es ging um eine neue Strategie, Berechnungen, Prozesse, die geändert werden müssten. Sie kam rasch auf die beste Lösung und wollte diese präsentieren. Da kam jemand aus der Geschäftsleitung mit Wirtschaftsstudium in der Tasche und meinte: «es kann nicht sein, dass du das so schnell erarbeitet hast, das kann nicht stimmen. Aber das ist halt, weil du kein Studium in dem Bereich gemacht hast und auch noch nie in der GL warst. Dann kennst du halt die Prozesse nicht, denen man bei der Erarbeitung einer neuen Strategie folgen muss». Sie folgte dann genau dem ihr vorgegebenen Prozess, um Wochen später auf genau dasselbe Ergebnis zu kommen, das sie schon vorher präsentieren wollte. Diesmal wurde es abgenickt, denn ihr wurde ja der Weg von einem «Gelehrten» gezeigt.


Sie verlor jedoch mit dieser Aussage ihr Glaube an sich. Sie war sich sicher, dass sie offenbar zu wenig weiss, dass sie noch ein Studium nachholen muss, um weiter erfolgreich arbeiten zu können. Dass sie über 10 Jahre selbständig erfolgreich gearbeitet und Leute geführt, Kinder therapiert und einen gesamten Hof am Leben erhielt verlor an Wert. Pippi Langstrumpf verschwand wieder.


Für mich verkörpert diese Kundin den Inbegriff des sogenannten Impliziten Wissens. Was bedeutet das: Wissen, dass durch individuelle Erfahrung, Knowhow, Intuition, gesammelt in langjährigem Umgang mit komplexen Aufgaben angeeignet wurde.


Was ist denn das Gegenteil? Explizites Wissen: kodiertes Wissen, das durch Dokumente, Datenbanken, Notizen, Anweisungen und Anleitungen angeeignet wird.


  • Gemäss Forschungen sind 90% des Wissens einer Organisation implizit gebunden. Nur 2% der Informationen werden verschriftlicht, der Rest ist in den Köpfen der Menschen in einer Organisation.


Trotzdem werden heute studierte Menschen, welche wenig Arbeitserfahrung vorweisen können, oftmals als besser, intelligenter und mehrwertiger auf dem Arbeitsmarkt eingestuft. Zertifikate müssen bescheinigen, dass man gewisse Arbeiten ausführen kann. Und das Traurige daran ist, dass dies viele der Betroffenen auch tatsächlich glauben und ihrer Pippi oder ihrem Superhelden in sich nicht mehr vertrauen und/oder das Gefühl haben, nicht gut genug zu sein.


Dabei ist langjährige Erfahrung in einem Bereich, in dem man tätig war, doch viel mehr wert als Erfahrung, die man nur in der Theorie gelernt hat. Ein Studium oder eine Ausbildung kann auf jeden Fall eine Unterstützung oder ein Anfang einer Karriere sein (wenn noch ohne Erfahrung). Ich traf jedoch auch auf viele Kandidat*innen, die schon über 10 Jahre in ihrem Fachgebiet erfolgreich gearbeitet haben (also mit implizitem Wissen), jedoch in der Zeit ihrer Arbeitslosigkeit aufgrund fehlendem zertifiziertem (also explizitem) Wissen keine Stelle mehr fanden. So mussten sie oft eine teure Ausbildung nachholen, um ihr bereits vorhandenes Wissen zu zertifizieren. In meinen Augen unnötig, ausser es geht um ein Upskilling, bei dem man bereits bestehendes Wissen auf den neuesten Stand bringen muss, um arbeitsmarktsfähig zu sein.


Meine Kundin hat während dem Coaching ihr Urvertrauen wieder gestärkt und Pippi drückte immer mehr durch. Es war grossartig, sie dabei begleiten zu dürfen. Und bei der Erarbeitung des Wissensbaums, bei dem man in eine bestehende Zeichnung von Wurzeln, Stamm und Krone alles Wissen, Erlernte und die persönlichen Erfolge aufschreibt, kamen die wunderbaren Worte von ihr: «Katja, ich glaube dieser Baum ist zu klein für mich»!


Willkommen zurück Pippi!


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